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Studierende berichten: Ergebnisse von Qualifikationsarbeiten im SyHD-Kontext

Anmerkung (Jürg Fleischer)

Im Rahmen von SyHD sind zahlreiche Seminar- und Abschlussarbeiten von Studierenden entstanden. Die indirekte Methode nach SyHD-Vorbild wurde bspw. genutzt, um Untersuchungen zu verschiedenen dialektsyntaktischen Phänomenen in bestimmten Regionen Hessens oder dem eigenen Heimatort durchzuführen. Zudem wurden anhand des SyHD-Materials Sekundärauswertungen vorgenommen. Beispielhaft wird hier eine Bachelorarbeit zur Sekundärauswertung von Kasussynkretismen in den Dialekten Hessens vorgestellt. 

Kasussynkretismen in den Dialekten Hessens: Eine Untersuchung anhand der SyHD-Materialien

Bachelorarbeit von Sophie Ellsäßer (ehemals studentische Hilfskraft bei SyHD, inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster)

1. Untersuchungsgegenstand 

In meiner Bachelorarbeit habe ich mich mit dem Ausdruck von Kasus in den Mundarten Hessens beschäftigt. Mein Schwerpunkt lag dabei auf dem Synkretismus von Akkusativ- und Dativformen in den südniederdeutschen Dialekten Westfälisch und Ostfälisch im Norden des Bundeslandes. Der Begriff Kasussynkretismus bezeichnet den Zusammenfall von zwei oder mehr ursprünglich distinkten Kasus innerhalb bestimmter Teile eines Sprachsystems auf eine Form. Im Deutschen weist das Nomen meist keine Kasusmarkierung auf. Sie findet sich stattdessen am Artikel, Adjektiv oder bei Pronomen, wobei sich diese in Bezug auf ihre Anfälligkeit für Synkretismen von den Nomen unterscheiden (vgl. Blake 2001). Das Phänomen Kasussynkretismus lässt sich auch im Standarddeutschen beobachten. Der feminine Artikel die kann hier den Nominativ und den Akkusativ ausdrücken:

(1)Die Kuh frisst die Blumen.

(2)Der Löwe frisst die Kuh.

Die deutschen Dialekte sind in Bezug auf die Kasusnivellierung, den Abbau von Kasusformen, jedoch weit innovativer als die Standardsprache. Sie neigen häufiger und bei mehr Wortarten zu Kasussynkretismus, wobei aber auch Unterschiede je nach Dialektregion zu beobachten sind. In einem ostfälischen Erhebungsort von SyHD etwa zeigt sich ein Synkretismus von Akkusativ und Dativ beim Personalpronomen mir. Es existiert keine distinkte Dativform mir mehr, Akkusativ und Dativ sind zusammengefallen zu meck (‚mich’):  

(3)Jo, hei hett ne meck oll echiewen.
'Ja, er hat es mich schon gegeben.'

Die Funktion von Kasus besteht darin, das Verhältnis einzelner Komplemente im Satz untereinander bzw. zum Verb auszudrücken und damit die semantischen Rollen im Satz zu bestimmen. Bislang gibt es nur wenige Untersuchungen, die sich mit den Kasussystemen deutscher Dialekte in ihrer arealen Ausprägung beschäftigen. Recht prominent ist die Arbeit von Shrier (1965), deren Datenbasis – die Arbeit beruht auf einer Analyse von Dialektgrammatiken und Ortsmonographien – jedoch nicht unproblematisch ist. Dennoch zeigt die Arbeit bestimmte Tendenzen, die erste Vermutungen zu den in den SyHD-Materialien auftretenden Kasusformen zulassen. Der Genitiv etwa ist aus nahezu allen deutschen Dialekten verschwunden. Für Hessen kann man entsprechend davon ausgehen, dass höchstens drei Kasus unterschieden werden, wobei Shriers (1965) Ergebnisse für die niederdeutschen Dialekte zudem eher zu einem System mit zwei Kasus, einem Nominativ und einem einzigen weiteren Kasus, dem Obliquus, tendieren.  

2. Methode (Sekundärauswertung)

In meiner Arbeit wurden gezielt Dativ-Kontexte untersucht und diejenigen Fälle dokumentiert, in denen wie im obigen Beispiel eine (historische) Akkusativform zu finden war. Datengrundlage meiner Untersuchung war das SyHD-Material, anhand dessen eine Sekundärauswertung zu bestimmten Aufgaben der ersten beiden indirekten Erhebungen (E1 + E2) durchgeführt wurde: 

 

Indirekte ErhebungFrageKasussynkretismus in Bezug auf ...
E1

01

Pronomen 1. Pers. Singular
02Pronomen 3. Pers. Singular feminin
10Pronomen 3. Pers. Singular maskulin
16Pronomen 1. Person Singular
23Pronomen 1. Person Singular
E203Possessivpronomen 2. Person Plural
04bestimmter Artikel maskulin
08bestimmter Artikel neutral
10bestimmter Artikel neutral

Tab. 1: Alle sekundär ausgewerteten Aufgaben der E1 und E2

Bei einer Sekundärauswertung handelt es sich um eine Auswertung von Daten zu einem Phänomen, das zwar nicht gezielt anhand bestimmter Aufgaben abgefragt wurde, anhand dieser aber dennoch auswertbar ist. Ein Vorteil von SyHD liegt gegenüber Shrier (1965) in der Dichte des Ortsnetzes und der enormen Anzahl an Informant_innen, was nicht nur eine große Belegdichte gewährleistet, sondern auch die Untersuchung mehrerer idiolektaler Systeme, also der Systeme mehrerer Sprecher_innen innerhalb eines Ortes, ermöglicht. Ausgewertet wurden  Übersetzungsaufgaben und Alternativantworten, die die Informant_innen im Rahmen von Bewertungsaufgaben selbst niedergeschrieben hatten: 

Abb. 1 „Dialektalisierte“ Bewertungsaufgabe mit Kasussynkretismus in Vorgabe und Antwort

Die „Dialektalisierung“ der Bewertungsaufgaben ist insofern zu berücksichtigen, dass Kasussynkretismen hier nicht immer einheitlich behandelt, das heißt nur teilweise in die „Dialektalisierung“ mit aufgenommen wurden. Nicht zu vergessen, dass auch nicht jede_r Informant_in die Möglichkeit genutzt hat, bei den Bewertungsaufgaben eine Alternativantwort zu notieren, was die Anzahl an auswertbaren Antworten je nach Antwortverhalten der Informant_innen natürlich reduziert.

3. Ergebnisse (Auswahl)

Die Ergebnisse zweier Sekundärauswertungen zu Bewertungsaufgaben werden nachfolgend anhand von Punktsymbolkarten dargestellt. Die roten Symbole zeigen jeweils besondere Synkretismustendenzen, z.B. den Akkusativ-Dativ-Synkretismus, die grauen Symbole zeigen Systeme, die diese Tendenzen nicht aufweisen. Die Größe der Punktsymbole korreliert mit der Anzahl an relevanten Antworten im Erhebungsort. Kleine Kreise zeigen, dass von den Informanten nur selten eine eigene Antwort gegeben wurde; Lücken im Ortsnetz, dass keinerlei eigene Antworten notiert wurden. Dennoch sind in beiden Kartendarstellungen eindeutige Raumstrukturen erkennbar. Akkusativ-Dativ-Synkretismen sind insbesondere im Norden Hessens belegt, je nach untersuchtem Kontext zeigen sie sich jedoch in unterschiedlicher Ausprägung.   

Das Auftreten der historischen Akkusativform mich im dativischen Kontext Ja, er hat ihn mir schon gegeben, eines Akkusativ-Dativ-Synkretismus (rot) also, beschränkt sich in Abb. 2 auf den ostfälischen Sprachraum und einen Teil des Übergangsgebiets zum Thüringischen. Gewertet wurden als Akkusative dabei ausschließlich Belege, die eindeutig als mich zu identifizieren waren, z.B. lautliche Varianten wie mick, mik oder mech. Formen wie mi (grau), die nicht eindeutig einem bestimmten Kasus zugeordnet werden konnten, wurden gesondert behandelt.

Abb. 2: Verbreitung der historischen Akkusativform in Dativrelation (Personalpronomen: 1. Pers. Sing.)

Abb. 3 bildet Kasussynkretismen in Bezug auf das Possessivpronomen der 2. Pers. Pl. ab (Ich möchte wissen, ob ihr auch Angst vor eurem Lehrer habt), das in keiner bisherigen Arbeit zur Verbreitung dialektaler Kasussysteme untersucht wurde. Die Belege für einen Akkusativ-Dativ-Synkretismus (rot) reichen hier deutlich weiter ins Nord- und teils auch Zentralhessische hinein als in Abb. 2. Auch die hohe Belegdichte fällt auf. Obgleich es sich erneut um eine Analyse alternativer Antworten im Rahmen einer Bewertungsaufgabe handelt, konnten zu beinahe jedem Ortspunkt Daten erhoben werden.

Abb. 3: Verbreitung der historischen Akkusativform in Dativrelation (Possessivpronomen: 2. Pers. Pl.)

Anhand dieser ausgwählten Ergebnisse wird bereits deutlich, dass eine morphologische Sekundärauswertung der SyHD-Materialien geeignet ist, um einen ersten Überblick über die geografische Verbreitung bestimmter Phänomene (hier: den Kasussynkretismus in unterschiedlichen Kontexten) zu erlangen. Wenngleich eine Analyse vollständiger Kasussysteme sowie aller relevanter Einflussfaktoren auf diese Weise nicht möglich ist, lassen sich doch Tendenzen erkennen, die durch weitere Analysen überprüft und abgesichert werden können.

4. Literatur

  • Blake, Barry J. (2001): Case. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press (Cambridge Textbooks in Linguistics).
  • Ellsäßer, Sophie (2011): Kasussynkretismen im Hessischen. Unveröffentlichte Bachelorarbeit. Marburg. 
  • Shrier, Martha (1965): Case Systems in German Dialects. In: Language 41/3: 420–438.