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Literaturrecherche und Korpusanalyse
Was die Auswahl der untersuchten Phänomene selbst betrifft, so mussten zunächst die in den Dialekten Hessens gegenüber dem Standarddeutschen prinzipiell vorzufindenden syntaktischen Besonderheiten ermittelt werden. Um später nicht die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu suchen, muss man bereits gewisse Erwartungen haben. Syntaktische Phänomene haben in freien Gesprächen – im Vergleich zu lautlichen, lexikalischen oder sogar morphologischen Charakteristika – eine relativ niedrige Vorkommensfrequenz, sodass man eine sehr große Menge an (gesprochenen oder transliterierten) Texten durchsuchen müsste, um auf bestimmte Phänomene zu stoßen bzw. eine (quantitativ wie qualitativ) ausreichende Anzahl an Belegen zu finden. Patocka (1989) bzw. Kortmann (2010) geben für die Erforschung syntaktischer Strukturen an, dass dafür etwa 80-mal bzw. 40-mal mehr Text nötig sei als für die Untersuchung phonetisch-phonologischer Merkmale. Daher ist zwar die Analyse freier Gespräche grundsätzlich eine geeignete Methode, für eine syntaktische Analyse insbesondere seltenerer (niedrigfrequenter) Ausdrucksmittel jedoch unter Umständen wenig fruchtbar. Auch für eine detaillierte Untersuchung der syntaktischen Distribution eines bestimmten Phänomens, das heißt für eine Differenzierung nach syntaktischem Kontext, erhält man aus freien Gesprächsdaten lediglich eine unzureichende Datenmenge. Diese müssen also durch andere Methoden ergänzt und – wie in SyHD geschehen – mit evozierten Daten aus Fragebogenerhebungen und/oder Experimenten kombiniert werden (vgl. auch Kallenborn 2011a, 2011b), um gewisse Konstruktionen gezielt abprüfen zu können.
Für einen ersten Zugang zu potenziell interessanten Phänomenen kann man – soweit vorhanden – linguistische bzw. dialektologische Fachliteratur auswerten und grammatische Beschreibungen von Ortsdialekten in Form von Ortsmonographien bzw. -grammatiken heranziehen. Als Nachteil erweist sich bei Letzteren jedoch, dass die Autor_innen dieser meist älteren Werke, die recht zahlreich vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jh. als rein deskriptive Dissertationen entstanden sind, der Syntax häufig einen sehr geringen Stellenwert beimaßen. Einige Hinweise kann man jedoch auch in den Morphologiekapiteln finden und selbst primär phonologisch- oder morphologisch-orientierte Werke kann man nach eventuell für die Syntax relevanten Beispielsätzen durchsuchen. In einigen Fällen können auch großlandschaftliche Wörterbücher (z. B. das Hessen-Nassauische Wörterbuch, HNWB) sowie kleinräumigere, lokale Wörterbücher (wie etwa das Frankfurter Wörterbuch 1971–1988 oder das Mittelhessische Wörterbuch 1993) herangezogen werden, sofern eine enge Beziehung zu einem bestimmten Lexem besteht (wie beispielsweise im Falle der partitiv gebrauchten Genitivpartikeln ere und sen, zu denen manche Wörterbücher einen eigenen Eintrag mit Beispielen haben). Bei der Literatursuche war die im Internet verfügbare Georeferenzierte Online-Bibliographie Areallinguistik (GOBA) als Teil des Digitalen Wenker-Atlas (DiWA) sehr hilfreich. Auch das Exzerpieren von Dialekttexten in Form von Mundartliteratur kommt prinzipiell in Frage, diesen liegt jedoch möglicherweise nicht der natürliche Sprachgebrauch zugrunde, sondern sie können mehr oder weniger stark reflektiert sein und einem gewissen Grad an Normierung unterliegen.
Um zu überprüfen, ob die ermittelten Phänomene auch in der spontanen Sprache vorkommen, sollte sich an die Literaturrecherche eine Korpusanalyse anschließen. Da Dialekte gesprochene Sprache sind – so wie Sprache allgemein primär mündlich ist –, müssen hierzu (mehr oder weniger) spontansprachliche Tonaufnahmen bzw. deren Transliterationen ausgewertet werden, wie sie für die deutschen Dialekte etwa mit den sog. Zwirner-Aufnahmen vorliegen. Das Korpus Deutsche Mundarten: Zwirner-Korpus (benannt nach Eberhard Zwirner) ist über das Archiv bzw. die Datenbank für Gesprochenes Deutsch (AGD/DGD) des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim verfügbar und umfasst knapp 5.800 zwischen 1955 und 1970 entstandene Sprachproben, von denen gut 2.300 transkribiert vorliegen. Bei den Aufnahmen wurde der Basisdialekt angestrebt und als Erhebungsmethode wurde eine (möglichst) wenig strukturierte Befragung gewählt, bei der eine einleitende Frage des Interviewers (Explorator) im Idealfall einen Monolog des Informanten auslösen sollte. Durch die Wahl von in der Regel drei autochthonen Sprechern pro Ort, die aus der jüngeren (um 20 Jahre), mittleren (um 40 Jahre) und älteren Generation (über 60 Jahre) stammten, ist ein Vergleich des Dialektgebrauchs der drei verschiedenen Altersgruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt und damit ein Einblick in diachrone Sprachwandelprozesse auf der Grundlage synchroner Daten möglich (Apparent-Time-Hypothese, vgl. u. a. Chambers/Trudgill 1998: 149–153). Insgesamt können die Zwirner-Daten wiederum diachron mit aktuellen Dialektdaten verglichen werden. Der erste Sprachatlas überhaupt und das weltweit nach wie vor größte Korpus dialektaler Daten liegt jedoch mit den Wenker-Materialien vor, bei denen es sich um die einzige Gesamterhebung (an über 40.000 Erhebungsorten zzgl. weiteren knapp 10.000 Nacherhebungsorten in den Gebieten außerhalb des Deutschen Reichs) und kartografische Darstellung (1.668 handgezeichnete Karten) der Dialekte des Deutschen handelt. Georg Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (Erhebungszeitraum: 1876–1887, Kartierung: 1888–1923) steht in Form des Digitalen Wenker-Atlas (DiWA) inzwischen auch digitalisiert und online zur Verfügung (die neue Version wird von regionalsprache.de geliefert). Die 40 Wenkersätze, die indirekt per Fragebogenversand erhoben und in der zweiten Hälfte des 20. Jh. um Tonaufnahmen ergänzt wurden, waren jedoch nicht im Hinblick auf syntaktische Phänomene erstellt worden. Dennoch ist zumindest bei einigen Sätzen eine (Sekundär-)Auswertung unter syntaktischen Gesichtspunkten möglich, was derzeit an der Universität Marburg im Rahmen des Projekts Morphosyntaktische Auswertung von Wenkersätzen durchgeführt wird. Durchsucht man beispielsweise für das hessische Gebiet das Zwirner-Korpus (ZW) und die DiWA-Sprachproben (Korpus Tonaufnahmen der hessischen Mundarten, TAHM), so kann man dabei unter anderem Belege für die folgenden Phänomene finden (hier wurde eine sehr standardnahe Transliteration gewählt, da das syntaktische Interesse im Vordergrund steht):
(1)Wir können keine Erholungsreise machen, da haben wir keine Zeit dafür (DGD ZW5G6, Erbstadt/Kreis Hanau) (Pronominaladverb: Distanzverdoppelung)
(2)Dann haben wir uns ins Bett gelegt. Und um drei kriegten wir wieder geweckt (DGD ZWW42, Hartmannshain/Kreis Lauterbach) (kriegen-/Rezipienten-Passiv)
(3)[...] das war so ’ne Zeit, wo die Zechen und die großen Industriewerke aufgebaut sollten werden (DGD ZWW58, Romsthal/Kreis Schlüchtern) (Serialisierung im Verbalcluster)
(4)Du bist noch nicht groß genug für eine Flasche Wein auszusaufen [...] (DiWA TAHM, Wenkersatz 16, Mörlenbach/Kreis Bergstraße) (finaler Infinitiv mit für ... zu)
(5)[...] da waren die anderen schon im Bett und waren fest am Schlafen (DiWA TAHM, Wenkersatz 24, Erbach/Odenwaldkreis) (am-Progressiv/„Rheinische Verlaufsform“)
(6)Die Leute sind heute alle draußen auf dem Feld und tun mähen (DiWA TAHM, Wenkersatz 38, Zell/Odenwaldkreis) (tun-Periphrase)
Mithilfe von Fachliteratur und Korpusrecherchen gelangten wir zu einem Phänomenkatalog, das heißt einer Auflistung relevanter syntaktischer Konstruktionen, deren areale Verbreitung und Verwendungsweise durch die Erhebung aktueller Dialektdaten genauer untersucht werden sollten. Im Folgenden ist ein Auszug des SyHD-Phänomenkatalogs angeführt. Dabei wurden die einzelnen Phänomene jeweils übergeordneten Phänomenbereichen zugeordnet. Freilich könnte man die angeführten Phänomene zum Teil auch anders gruppieren bzw. anderen Phänomenbereichen zuordnen. Unter einen Bereich Serialisierung (Wortfolge) würden beispielsweise die Wortstellung im Verbalcluster oder die Stellung von (klitischen) Pronomina fallen, unter Verdoppelungsphänomene – eine Schnittstelle zum Dachprojekt European Dialect Syntax (Edisyn) – könnte man etwa die (kurze und Distanz-)Verdoppelung von Pronominaladverbien, Doubly-filled COMPs oder das hier nicht aufgeführte Phänomen der Mehrfachnegation (Früher hat für so etwas keiner kein (ein) Geld (nicht) gehabt) subsumieren.
Phänomenbereich | Phänomen | Beispiel (Fragen in SyHD) |
---|---|---|
Verbalsyntax | Ersatzinfinitiv | …, dass du es nicht hast durft gesagt/sagen dürfen/durft gesagen/dürfen gesagt. |
Rezipientenpassiv | Der wird/die kriegt/die bekommt das Bein wieder angenäht. | |
Verbalcluster (zwei- bzw. dreigliedrig | …, ob er einmal will heiraten/heiraten will. …, dass wir das Buch bis am Freitag gelesen haben müssen/müssen gelesen haben/gelesen müssen haben. | |
Verlaufsformen (am-Progressiv, tun-Periphrase ...) | Ich bin am (beim, dabei zu) G/gewinnen. Ich tue gewinnen. | |
Nominal- und Pronominalsyntax | Artikel vor Eigennamen | (Der) Klaus schießt immer den Ball gegen die Garage. |
Indefinitartikel bei Kontinuativa | Will noch jemand (ein) Salz? | |
Indefinit-partitive Pronomina | Ich hätte gerne Radieschen. Hast du welche/ere/∅/einePL da? Wir haben auch (eine) Milch. Willst du welche/ere/∅/eine? Ich habe keinen Zucker mehr. Hast du (noch) welchen/sen/es/∅/einen (noch)? | |
Possessiver Dativ | Das ist dem Bürgermeister seine Tochter/die Tochter vom Bürgermeister. | |
Pronomenserialisierung (Subj.–Obj., dir. Obj.–indir. Obj.) | Tätest du ihn/ihn du richtig kennen, hättest du ... Sie hat’s mir/hat mir’s gestern erzählt. | |
Pronominaladverb | Da(da)von weiß ich noch nichts/Da weiß ich noch nichts (da)von. | |
Satzverknüpfung | Vergleichskonstruktionen (Äquativ und Komparativ) | Der Thomas ist so alt wie/als wie (dass) meine Schwester. Die Tür ist ja breiter wie/als/als wie (dass) hoch. |
Doubly-filled COMPs | Man glaubt’s ja heute nicht mehr, mit wie wenig (dass) man früher zufrieden war. | |
Flektierte Konjunktionen | Ich möchte wissen, ob ihr/obd ihr/ob dihr auch Angst vor eurem Lehrer habt. | |
Relativpronomen | Das Geld, das/was/(das) wo ich verdiene, gehört mir. | |
w-Extraktion | Was glaubst du/Mit wem glaubst du, mit wem (dem) er Streit hat? |
Phänomenliste Syntax hessischer Dialekte (SyHD) (Auszug)
(vgl. ausführlich Lenz/Fleischer/Weiß 2015)